Seit Beginn der großen Staatenbildungen im Nahen Osten, am Mittelmeer und in Asien verfahren Reiche mit peripheren Gebieten innerhalb oder entlang ihrer Grenzen auf je eigene Art und Weise. Diese Räume, die von Herrschafts- und Verwaltungszentren aus nicht beherrscht werden, weil sie schwer erreichbar sind bzw. ihre Erschließung wenig Nutzen verspricht, sind indes nicht unbewohnt. Im Buch „The Art of not being governed“, das die „zomia„-Debatte aufbrachte, beschreibt James C. Scott die Bevölkerung dieser Gebiete als anarchisch und entfachte damit eine Debatte über den Charakter von Randzonen und Grenzländern, die im Kern auf eine wiederholt erwogene Fragestellung abzielt: Wie beeinflußt der geographische Raum den Menschen, welche Rolle spielt in seinem Handeln dabei seine Umwelt?
Das Amudarja-Delta in Zentralasien beispielsweise ist als Flussdelta hochdynamischen Veränderungsprozessen unterworfen. Seine Bewohner müssen sich darauf einstellen: Sie siedeln verstreut, haben mobile Siedlungsmuster und flexible soziale Strukturen, die unter dem Druck wasserräumlicher Veränderungen in der Lage sind, sich als soziale Gemeinschaften den Naturbedingungen gemäß zu organisieren. Eines der Schwerpunkte ethnologischer Forschung am Mauritianum ist deshalb das Amudarja Delta.
Das Flußdelta des Ganges ist in ähnlicher Weise wie das Amudarja Delta geprägt von dynamischen Veränderungen. Über die Jahrtausende haben Ganges, Brahmaputra und Meghna mit ihren Löß-, Sand- und Schlammmassen ein ins Meer vorgeschobenes Land erschaffen. Bei Ebbe fließt in vielen Kanälen des Deltas das Flusswasser meerwärts, bei Flut fließt das Seewasser landeinwärts. In der Regenzeit überschwemmen die Himalayaflüsse die Dörfer mit Wasser, in der Trockenzeit dominiert an vielen Orten das Meerwasser, was zu salzigem Trinkwasser führt. Heute ist das natürliche Gleichgewicht, das Flußwasser und Meerwasser im Delta bilden, empfindlich gestört. Indische Staudammprojekte führen zur Wasserknappheit und Wasserüberschuß zu Unzeiten. Auch das Ganges-Delta in Bangladesh befindet sich im Fokus der Forschung am Mauritianum.
Der Altai ist ein Raum, der vielen Völkern eine Heimat bot, dessen steile und schwer zugänglichen Berggebiete seinen Bewohnern einen hohen Grad an Unabhängigkeit zusicherte und dessen Steppen und Flußtäler indigenen Bevölkerungsgruppen eine vielfältige Bewirtschaftung ermöglichten. Davon ist jedoch seit der schrittweisen Unterwerfung des Altais durch russische Kosaken, die als Kaufleute das Gebiet kolonisierten, nicht mehr viel übrig. Die indigene Bevölkerung der Waldgebiete ist fast vollständig durch russischen Einfluss überformt und hat ein kaum erkennbares eigenes Profil. In schwer zugänglichen Wald- und Steppengebieten jedoch haben sich kleine Bevölkerungsgruppen eine eigenständige Kultur bewahren können. Diese sind ein weiterer Schwerpunkt ethnologischer Forschung am Mauritianum.